Gemeinnütziger Verein Kücknitz e. V.

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Gedenkfeier zum Volkstrauertag

Sonntag, 18. November 2012 am Ehrenmal Friedhof Waldhusen
Begrüßung: Georg Sewe, 1.Vorsitzender des Gemeinnützigen Vereins Kücknitz e. V.

Kranzniederlegung begleitet von den St. Johannes-Bläsern, Leitung: Egbert Staabs

Kranzniederlegung zum Volkstrauertag 2012 [Foto: GMVK]

volkstrauertag 2014Worte des Gedenkens:
Altbischof Karl Ludwig Kohlwage

Meine Damen und Herren, lieber Herr Sewe!
Heute ist Volkstrauertag. Heute denken wir an die Opfer von Gewalt und Krieg, Kinder, Frauen, Männer aller Völker. Wir gedenken der Opfer, verstümmelt im Granatenhagel, ermordet in KZ-Lagern, erfroren und verhungert auf der Flucht oder nach der Flucht. Auch hier auf diesem Friedhof liegen sie. Wir gedenken derer, die verfolgt und getötet wurden, weil sie einem anderen Volk oder einer anderen Rasse angehörten oder weil ihr Leben durch Krankheit oder Behinderung "lebensunwert" war, wie es im dunkelsten Abschnitt der deutschen Geschichte hieß. Wir gedenken derer, die umgebracht wurden, weil sie Widerstand gegen Gewaltherrschaft und Menschenverachtung leisteten. Und wir trauern um die Opfer von Krieg, Bürgerkrieg und Terror an vielen Orten unserer Welt heute, besonders im Nahen Osten, in Syrien, jetzt in Israel-Palästina. Es erfüllt uns mit Trauer und Erschrecken, wie immer wieder und immer neu Gewalt und Gegengewalt eskalieren und Menschen in den Tod reißen.

Heute denken wir an Menschen, für die nicht das tröstliche Wort des Alten Testaments gilt: "Sie starben und lebenssatt." Nein, sie starben vor der Zeit und durch Menschenhand. Es sind Menschen, die leben wollten, die Pläne hatten, Hoffnungen, Erwartungen, aber ihr Leben wurde zerstört.

Die Zahl der Opfer, denen das Gedenken dieses Tages gilt, überschreitet das Maß des Vorstellbaren. Der fast 70-jährige Abstand freilich von den grauenhaften Ereignissen des 2. Weltkrieges trägt zum Verblassen bei. Anders aber ist es, wenn aus dieser unermesslichen Schar ein Mensch, ein Schicksal, ein Name hervortritt. Noch leben Menschen, die direkt von der Gewalt damals betroffen sind. Sie trauern um Angehörige, Freunde, die Opfer geworden sind.

In Lübeck denken wir daran, dass der gewaltsame, der verbrecherische Tod ein Gesicht bekommen hat in Gestalt der 4 Lübecker Märtyrer, derer wir vor wenigen Tagen, am 10. November, gedacht haben. Am 10. November 1943 wurden sie als Opfer nationalsozialistischer Terrorjustiz hingerichtet.

Volkstrauertag: Manchmal hört man die Frage, ob denn Trauer durch einen staatlich festgelegten Feiertag verordnet werden kann, ob ein ganzes Volk trauern kann. Nein, Trauer kann nicht angeordnet und nicht für alle verbindlich gemacht werden. Aber es muss Erinnerung bleiben, und sie braucht ihren Ort und sie braucht ihre Zeit und sie braucht Menschen, die sich dem stellen, was war.

Es darf nicht sein, daß das maßlose Leid, die Absurdität dieses Sterbens, die Ungeheuerlichkeiten, die Menschen Menschen angetan haben, hinter einem vermeintlichen Schlussstrich, den man glaubt ziehen zu können, in das Vergessen, in die Ahnungslosigkeit verschwinden.

Das kann ein teures Vergessen sein, eine teure Ahnungslosigkeit, weil sie keinen Schutz bietet gegen neue Feindschaft, gegen neuen Hass, gegen neue Überheblichkeit. Und nichts brauchen wir mehr als diesen Schutz. Nichts brauchen wir mehr, als dass uns dieses eine große Vermächtnis der schrecklichen Ereignisse des vergangenen Jahrhundert bestimmt: Alles kommt darauf an, miteinander zu leben und nicht gegeneinander.

Wenn es eine Lektion gibt, die aus diesem Jahrhundert zu lernen ist, dann ist es diese:

"Lassen Sie sich nicht hineintreiben in Feindschaft und Hass
gegen andere Menschen,
gegen Russen oder Amerikaner,
gegen Juden oder Türken,
gegen Alternative oder Konservative,
gegen Schwarz oder Weiß.
Lernen Sie miteinander zu leben, nicht gegeneinander.
Ehren wir die Freiheit. Arbeiten wir für den Frieden. Halten wir uns an das Recht."

Damit schloss Bundespräsident Richard von Weizsäcker seine große Rede zum 8. Mai 1985 zum 40. Jahrestag des Kriegsendes in Europa, sie liegt Jahrzehnte zurück, aber sie ist gültig bis auf diesen Tag. Und mit Recht und Notwendigkeit hat sie als ein ganz großer Text Eingang gefunden in die Schulbücher.

Die Einsicht in diese Mahnung, die so aktuell ist, wie nur irgend etwas in unserem Land, kann nur wachsen, wo nicht verdrängt und vergessen wird, wo der Erinnerung Raum gegeben wird und der Trauer. Die Fähigkeit zur Trauer und zur Einsicht ist die Kraft humaner Orientierung.

Ende März dieses Jahres haben wir der Zerstörung Lübecks durch englische Bombengeschwader vor 70 Jahren, in der Nacht auf Palmarum 1942 gedacht. Ich habe diese Nacht als 9jähriger Junge miterlebt und erinnere mich gut. Ein für mich unvergessliches Bild sah ich am Mittag des Sonntag Palmarum. Wir wohnten nicht allzu fern vom Lübecker Dom und konnten den Untergang der Kathedrale beobachten. Der Helm des einen Turms war schon zusammengebrochen und hatte einen nackten, klotzigen Stumpf zurückgelassen, der Helm des anderen Turm stand noch, die Kupferabdeckung aber war aufgerissen, und Flammen schlugen aus der Balkenkonstruktion. Einzelne Teile lösten sich, und dann brach vor unseren Augen der schlanke Helm auseinander und stürzte wie eine gigantische Fackel nach unten.

Das sind Bilder, die man nie vergisst, und deren Ungeheuerlichkeit einem erst später aufgeht. Sie haben sich fest in die Erinnerung, in das Gedenken eingebrannt. Später haben wir erfahren, dass die Zerstörung Lübecks Vergeltung für das von deutschen Bombern zerstörte Coventry war. Für alles wird bezahlt, so heißt es doch.

Was ist daraus geworden? Der Dom ist herrlich wiederauferstanden und ist jetzt in sich ein Zeugnis der Auferstehung, die in ihm verkündet wird. Die Zerstörungsgeschichte hat einer ganz anderen Geschichte Raum gemacht. Das zu erleben, ist das Privileg meiner Generation, ist unser aller Privileg.

Palmarum 1992 – 50 Jahre danach – haben wir einen Gottesdienst gefeiert, von dem ich schon oft erzählt habe. Am Altar der Engländer Stephen Sykes, Bischof von Ely, der Partnerdiözese der Nordelbischen Kirche, der Rabbiner Carlebach aus Manchester, Neffe des letzten Lübecker Rabbiners, der 1941 mit seiner Gemeinde in die Todeslager des Baltikums deportiert wurde, und der deutsche Bischof. Wir Drei vereint in dem Kyrie eleison – Herr, erbarme dich.

Was für ein Bild! Was für ein Schritt heraus aus der Geschichte von Tod, Verwüstung, Menschenverachtung. Gott nagelt uns nicht fest auf die Schrecken der Vergangenheit, sondern öffnet neue Wege der Verständigung und Versöhnung. Und es hat früh Menschen gegeben, die entschlossen waren, diese Wege zu gehen.

Das Staunen bleibt, der Dank bleibt: auf einem von Gewalt, Hochmut und ideologischer Verblendung verseuchten Boden ist etwas Neues gewachsen, eine neue Ordnung unseres gemeinsamen Lebens, die jedem Menschen unantastbare Würde und unveräußerliche Rechte zuspricht.

Das Projekt Europa ist auf diesem Boden gewachsen. Ein Kontinent, dessen Geschichte 1000 Jahre mit Blut geschrieben wurde, ist aufgebrochen zu einem neuen Miteinander. Und wir, Alte wie Junge, sind dafür verantwortlich, dass dieses Neue nicht zerrieben wird durch Finanz- und Wirtschaftsprobleme, dass es nicht der Gleichgültigkeit und Erwartungslosigkeit oder gar Verachtung anheim fällt. Nur so kann das, was in Europa geschehen ist und geschieht, ausstrahlen auf die Regionen der Erde, in denen immer noch Gewalt und Krieg herrschen.

Vergesst es nicht! Gedenkt dessen! Und tretet ein für das Neue, wenn sich die Kräfte des Bösen und Ewiggestrigen wieder melden! Diese Kräfte der Unversöhnlichkeit und des Hasses sind nach wie vor aktiv, sie melden sich, auch in Lübeck. Sie brauchen die klare und eindeutige Absage, eine Absage, deren Klarheit und Eindeutigkeit sich nährt aus der Erinnerung, aus der Einsicht in das, was war und was nie wieder sein darf .

Wir sind hier zusammen unter einem großen Kreuz. Am Kreuz hat einer gehangen, der alle Gewalt, Niedertracht und Vernichtungswut auf sich genommen hat. Er sollte verschwinden. "Der muss weg!" war Mehrheitsmeinung. Aber er ist nicht weg. Er ist mit neuem Leben aus Tod und Verderben hervorgegangen. Sein Kreuz ist ein Zeichen des Lebens geworden. Sein Geist ist unter uns lebendig. Er hält Ausschau nach denen, die ihn bitten: Richte unsere Füße auf den Weg des Friedens! Und die tun, worum sie bitten.